Seit 600 Tagen ohne eigenes
Zuhause, seit 430 Tagen im Ausland und seit 180 Tagen hier im Casa Padre Silvio
in Ecuador. Die Zeit vergeht wie im Flug und doch bemerken wir, dass wir in
diesen mehr als eineinhalb Jahren unglaublich viel gesehen, erlebt und
gearbeitet haben. Viele Tage gereist, viele Stunden geschuftet, viele Minuten
gepackt, viele Sekunden gezweifelt am Bus der nicht kommt, am zu schnellen
Taxifahrer, am Projekt und an unserem Leben. Nie gab es Zweifel, dass wir die
Schweiz nicht hätten verlassen sollen, doch die Richtung war und bleibt unklar.
Nie gab es ein Vorbild, nach welchem wir hätten leben wollen. Wir lieben zwar
die Sendung „Auf und davon“ auf SRF, bezeichnen uns jedoch nicht als
Auswanderer. Wir lieben es zu reisen, sind aber keine Heimatlosen. Wir lieben
Kinder, wollen jedoch nicht Eltern sein. Wir lieben unsere Freunde und Familien
und trotzdem zieht es uns in die Ferne.
Wo stehen wir also?
Momentan sind wir gut integriert im Projekt Casa Padre Silvio. Über die Monate
hinweg sind wir zu wichtigen Mitarbeitern geworden, die Spenden akquirieren,
Kinder mit besonderen Schwierigkeiten betreuen oder die Leitung in diversen
Aufgaben coachen. Immer wieder hadern wir mit der ecuadorianischen Kultur; wenn
das Essen aus drei verschiedenen Kohlenhydraten besteht (nein, Banane ist kein
Gemüse und durch frittieren wird es nicht besser) oder sich zukunftsgerichtetes
Planen auf den übernächsten Tag bezieht. Normalerweise aber kochen wir mühelos
für die Kinder ihr geliebtes ecuadorianisches Essen mit Colada de Avena (einem
Hafergetränk, das als volle Mahlzeit durchgeht) oder helfen geduldig alle
römischen Zahlen von 1-500 zu Papier zu bringen, auch wenn dabei unser Lehrerherz
schmerzt. Mittlerweile sprechen wir relativ fliessend Spanisch und trauen uns
gar, in dieser Fremdsprache zu debattieren oder Filme ohne Untertitel zu
schauen. Bald steht die Spanischprüfung in Quito an, worauf wir uns in der
knappen Freizeit vorbereiten. Ausserdem sind wir seit kurzem ONE
WORLD-Mitarbeiter auf freiwilliger Basis, verantwortlich für das Projekt
Ecuador. Wer hätte das gedacht vor bald zwei Jahren? Damals steckten wir
Eckpfeiler, planten eifrig, wussten jedoch selten wohin es gehen würde. Es fiel
uns schwer, unsere Zukunft ohne unmittelbare Vorbilder zu gestalten. Erst wenn
man diese klaren Rollenbilder nicht mehr so deutlich vor sich hat, merkt man,
wie viel Sicherheit sie vermittelten. In unserem Leben gab es Mütter und Väter,
die wir einmal hätten werden können, Lehrerinnen, die wir uns zum Vorbild
nahmen, eine Familie und Freunde, die uns zeigten zu welcher sozialen und
politischen Gruppe wir gehörten. Nach einiger Zeit in der Ferne ohne konstanten
Freundeskreis, ohne Vorbilder, ohne Familie haben wir uns verändert. Wir haben
gelernt ohne Vorbilder zu planen, unsicher in die Zukunft zu spazieren, die
komischen Ausländer zu sein und viel in Zweisamkeit zu leben, leider ohne unsere
Liebsten. Aber nicht nur wir haben uns verändert, sondern auch unser Umfeld in
der Schweiz: Freunde gebären Kinder, Eltern sind älter, Geschwister tragen mehr
Verantwortung und von einigen hört man nur noch über Facebook. Durch unsere
Entscheidung für das Abenteuer haben wir uns von den geregelten Bahnen des
Alltags verabschiedet.
Jetzt stellt sich erneut
die Frage von damals: Wohin gehen wir also? Auf der einen Seite haben wir die
Schweiz mit den guten Jobmöglichkeiten, dem belebenden Freundeskreis, dem
sozialen Netz der Familie und die Möglichkeit sich erneut zu integrieren. Auf
der anderen Seite lauert die Ungewissheit, das Abenteuer, ein Job an der Uni
oder in einer Bar, ein Leben in Kanada, Amerika oder doch Berlin. Wir haben
Zuversicht in die Ungewissheit. Wissen tun wir noch nichts, wir müssen
abwarten, bis sich die Zukunft klarer abzeichnet. Bis dahin planen wir zusammen
mit Freunden und Familie aber ohne Vorbilder unsere Reise bis Ende 2019. Denn
eines war und bleibt klar: niemand kann die Familie zu Weihnachten und die
Freunde zu Silvester ersetzen.
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